Das historische Jahr 1990 (2023)

Einführung

In der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2005 scheint die Zukunft für viele bereits verloren. Weder die Bevölkerung noch die politische Elite scheinen eine Vorstellung davon zu haben, wie die Gesellschaft in zehn oder zwanzig Jahren aussehen wird.Lage und Stimmung sind laut dem deutsch-amerikanischen Historiker Fritz Stern von Melancholie, Unsicherheit und Unzufriedenheit geprägt.Neue soziale Ungleichheiten und ein "umfassender Fatalismus" scheinen sich auszubreiten, und viele scheinen versucht, in die Vergangenheit zurückzukehren, um die Gegenwart zu sichern und eine Zukunft zu gewinnen.

Es wäre zu klären, welche Aspekte der Vergangenheit involviert sein könnten. Manche Beobachter befürchten, dass die hier angesprochene deutsche Vergangenheit der Nationalsozialismus sein könnte: Erinnerungen an eine "faszinierende" Zeit, als die Massenarbeitslosigkeit überwunden, Deutschland wieder zu einer Sache der Welt gemacht und die "Blitzkriege" gewonnen wurde. Außerdem gebe es in vielen Familien Erinnerungen an „Leiden, Leiden und Leiden, das zerbombte Haus, die verlassenen Habseligkeiten, den damals sehr jungen Großvater, Kriegsgefangener“,und in Wissenschaft und Journalismus wird der Status der Deutschen als Opfer von Bombenangriffen, Vertreibungen und Vergewaltigungen aufgedeckt.Solche Erinnerungen sollten nicht diskreditiert werden, denn alle Völker haben das Recht und sogar die Pflicht, ihrer eigenen Toten zu gedenken. Auch die individuelle Verarbeitung des in der Familie oder persönlich erlittenen Leidens ist notwendig und sinnvoll. Aber sie darf nicht aus dem Gesamtkontext deutscher Schuld herausgelöst werden.

Überhaupt ist die monströse Krimi-Ära des „Dritten Reiches“ so gut recherchiert und im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass sie als „Volksfaszination“ unbrauchbar ist. Eine ständige Sorge um die deutsche Schuld bleibt jedoch notwendig, und auch wenn der einzelne Deutsche heute nicht persönlich schuldig ist, so besteht doch die Verantwortung der Nation. Auschwitz als Gründungsort der Bundesrepublik werde „ex negativ“ bleiben. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Erinnerung für eine Neubildung nationaler Identität ausreicht. Eine mögliche Antwort knüpft an die Suche nach dem Positiven in der deutschen Geschichte an.

Ein kurzer Blick auf die deutschen Freiheitstraditionen ist sinnvoll. Diese reichen weit zurück. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus und gegen die zweite deutsche Diktatur ist von entscheidender Bedeutung für die geistige und moralische Festigung der Demokratie in der Bundesrepublik. Im Mittelpunkt steht dabei die friedliche Revolution von 1989/90 und die dadurch ermöglichte Wiedervereinigung.

Bei der Frage nach der historischen Bedeutung des Jahres 1990 und des Herbstes des Vorjahres geht es nicht primär um den 9. November 1989 und den Fall der Berliner Mauer, sondern um den 9. Oktober 1989 in Leipzig, als die Staatsmacht der schieren Masse gegenübersteht Die friedlichen Demonstranten kapitulierten. Die Menschen auf der Straße schufen die Voraussetzungen für den Mauerfall, den Höhepunkt einer friedlichen Revolution. Manche Historiker und Politikwissenschaftler verlieren diese Perspektive oft aus den Augen, wenn sie äußere Bedingungen wie die wirtschaftliche Überlegenheit des Westens, die Informationsrevolution, die Rolle westlicher Politiker oder den sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow überbetonen.Aber erst nach dem entscheidenden Montag in Leipzig wurde politisches Handeln für die deutsche Einheit möglich.

Der 9. November 1989 war zwar einer der glücklichsten Tage der deutschen Geschichte,aber ohne den 9. Oktober ist er undenkbar. Dies wird zunehmend übersehen, da Berlin als deutsche Hauptstadt mehr Interesse weckt als die „ostdeutsche Provinz“ und es eindrucksvollere Fotos vom Mauerfall gibt. Letzteres war eine deutsch-deutsche Veranstaltung. Allerdings ist der Fall der Berliner Mauer nicht mit dem Sturm auf die Bastille zu vergleichen.Nur die Besetzung des SED-Geheimpolizeipräsidiums vom 4. Dezember 1989 entspricht diesem Höhepunkt der Französischen Revolution.

Forderungen der Bürgerbewegung

1989 endete die kommunistische Diktatur wirtschaftlich, sozial, moralisch und ökologisch. Gebückt und geistig erschöpft wartete man auf den Freilassungsbefehl aus Moskau. Die marxistisch-leninistische Ideologie ging unter den Herrschenden zurück, und der Mut, sich zu seinen Idealen zu bekennen, nahm stark ab.In dieser Situation war es ein historischer Glücksfall, dass sich die Hoffnungen und Forderungen der Bürgerbewegung für kurze Zeit mit denen der Mehrheit der Bevölkerung verbanden und revolutionäres politisches Handeln möglich wurde.

Ein Text des Neuen Forums vom 28. Oktober 1989 macht die Forderungen der Bürgerbewegung deutlich.Es ging um Freiheit im Sinne von Presse-, Meinungs-, Verfassungs- und Demonstrationsfreiheit, Reisefreiheit und freie Wahl des Wohnortes. Hinzu kam die Idee einer reformierten DDR ohne allgegenwärtige (Geheim-)Polizei, befreundet mit der Bundesrepublik, aber mit dem Vorwand einer „neuen DDR“.Letztlich war dies eine illusorische Position.

Andere Reformhoffnungen von Bürgerrechtsgruppen umfassten eine Medienreform, eine Wahlrechtsreform, umfassende Änderungen der politischen Strafjustiz und des Strafvollzugssystems sowie die Offenlegung und Abschaffung aller Vergünstigungen und Vergünstigungen für Staatsbeamte. Der Wehrdienst muss verkürzt und ein alternativer Rechts- und Sozialdienst geschaffen werden. Polizei und Sicherheitskräfte müssen vom Parlament kontrolliert und auf das unbedingt Notwendige beschränkt werden. Weitere Forderungen betrafen die Trennung von Staat und Gesellschaft, den Abbau von Bürokratie und die Autonomie der Kreise und Gemeinden. Hoffnungen wurden auch auf einen Neuanfang in Bildung und Ausbildung und eine Stabilisierung des sozialen Netzes gemacht.

Die Forderungen, Hoffnungen und Wünsche der Mehrheit der Ostdeutschen waren während einer kurzen und glücklichen historischen Zeit fast identisch mit denen der Bürgerbewegung unter dem Motto „Wir sind das Volk“, nur um sich nach dem Fall der Berliner Mauer zu unterscheiden unter dem Motto "Wir sind ein Volk" sich immer schneller hin zu einer möglichst schnellen und vollständigen Wiedervereinigung zu entwickeln. Im Einzelnen zeigte die Situation bei den Herbstdemonstrationen 1989, dass sich allgemeine politische Forderungen mit dem Wunsch nach Veränderungen im Alltag verbanden.Diese waren in der gesamten DDR ähnlich. Demonstranten forderten „Stasi in Produktion“, SED-Funktionäre sollten zur Rechenschaft gezogen, der SED-Führungsanspruch beendet und politisch Verfolgte rehabilitiert werden. Das bedeutete freie Wahlen, freie Presse, freie Religionsausübung und freie Schulbildung, Hochschullehre und Forschung. Auch die Präsenz sowjetischer Truppen in der DDR wurde kritisiert.

Andere Hoffnungen wurden auf die Überwindung der hypertrophen Bürokratie gesetzt. Besonders die Sachsen begrüßten die Vision, ihren Freistaat neu zu gründen. Die SED oder Nachbarschaftsparteien und die Massenorganisationen mussten ihre Geschäfte aufgeben, der Umweltschutz musste gewährleistet, der Niedergang der Städte gestoppt und das Gesundheitssystem reformiert werden. Behinderte und ältere Menschen sollten mehr Aufmerksamkeit erhalten und Spielplätze sollten gebaut werden. Die Demonstranten forderten das Verschwinden des Moderators Karl Eduard von Schnitzler von den Fernsehbildschirmen und eine echte Versöhnung mit der Geschichte.

Nicht zuletzt wollten viele ihre materielle Situation verbessern, manche dachten daran, ihren „Trabi“ durch ein „echtes“ Auto zu ersetzen. Schließlich gewann auch die Hoffnung auf ein vereintes Deutschland in einem vereinten Europa an Bedeutung. In der allgemeinen Euphorie und Zukunftserwartungen verwiesen nur wenige Redner auf den Zusammenbruch der Wirtschaft oder des sozialen Zusammenbruchs oder verbanden ihn gar mit der Prophezeiung bevorstehender schwieriger Zeiten. Das wollten viele Ostdeutsche damals nicht hören.

Der Leipziger Historiker Hartmut Zwer hat die Forderungen der Revolution von 1989/90 systematisch untersucht und eingeordnet. Er identifiziert vier Forderungsgruppen: 1. für Demokratisierung („Demokratie – jetzt oder nie“, „Wir sind das Volk“), 2. für Grundrechte und Freiheiten („freie Presse“, „öffentlicher Dienst, Menschenrechte“, „ Reisefreiheit für alle“, „Visumfreiheit für Hawaii“, „Streikrecht“), 3. nach dem Machtwechsel („Erich will, will uns nichts tun“, „Das Land braucht neue Männer“ „Rücktritt der Regierung! Bestrafen Sie die Verantwortlichen") und 4. nach der Zerstörung des Staatsmachtapparates zunächst der Staatssicherheit ("Stasi ist weg, sie hat keinen Zweck", "Stasi in der Volkswirtschaft", "Stasi, Ihre Die Die Zeit ist um").

Mehr als 90 % der Anträge im Herbst 1989 wurden erfüllt.Die Ostdeutschen 1989/1990 konnten sich die Schwierigkeiten der Gegenwart kaum vorstellen: von Massenarbeitslosigkeit über Überalterung bis hin zur Abwanderung aus dem Osten.

Was wurde 1990 erreicht?

Erstmals in der Geschichte Deutschlands leben Deutsche nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 am 3. Oktober 1990 international innerhalb gesicherter Grenzen erkannt und werden von ihren Nachbarn nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen. Die „nationale Frage“ ist gelöst, Freiheit und nationale Einheit erkämpft und geeint, die Nation geeint in einem nachklassischen, demokratischen Nationalstaat.Mit dem „Endausgleichsvertrag gegenüber Deutschland“ am 3. Oktober 1990 endete die Nachkriegszeit, die Bundesrepublik war voll souverän.

Im Streit mit Günter Grass über dessen Interpretation der den Deutschen gewährten "Freiheit" führte Richard Schröder wichtige Ergebnisse der Entwicklung der friedlichen Revolution zur Wiedervereinigung an.Erstens bedeutet es, dass politische Repression und Spionage beendet sind und dass Menschen, die ihr Land verlassen wollen, nicht mehr Gefahr laufen, an einer fast undurchdringlichen Grenze getötet zu werden. Ebenso wichtig ist heute, dass die Ostdeutschen die parlamentarische Demokratie und ihre Institutionen grundsätzlich akzeptiert haben. Auch die Erinnerung an das Glück des „aufrechten Gehens“ und das Wissen, bedrückende Zustände friedlich überwinden zu können, ist noch immer mit dem Herbst 1989 verbunden, wenn auch teilweise verschüttet.

Allerdings scheint die Zustimmung zur demokratischen Staatsform gerade in jüngster Zeit zunehmend gefährdet zu sein. Ein großes Warnzeichen ist, dass zwischen 1991 und 2003 30 bis 50 Prozent der Westdeutschen, aber 50 bis 70 Prozent der Ostdeutschen mit der Demokratie "unzufrieden" waren.Besorgniserregend ist auch, dass sich diese Unzufriedenheit in Stimmenverlusten für etablierte Parteien, sinkender Wahlbeteiligung und sinkender Parteizugehörigkeit niederschlägt. Auf der Suche nach Gründen werden für den Orient die unterschiedliche Sozialisation, der aktuelle sozioökonomische Status, die enttäuschten Erwartungen im Einigungsprozess und die wenigen Möglichkeiten zum partizipatorischen Handel genutzt.

Aber im Grunde hat die Zufriedenheit mit der Demokratie vor allem mit der Möglichkeit selbstbestimmten Handelns zu tun.Verbesserungen sind hier im Osten dringend nötig, aber nur die Ostdeutschen selbst können sie fordern und durchführen. Demokratie braucht Kompromisse, und für die Weiterentwicklung im vereinten Deutschland ist es unabdingbar, dass ostdeutsche Interessen auf Bundesebene ausreichend berücksichtigt werden.

Wichtig ist, dass der „Aufbau im Osten“ trotz Massenarbeitslosigkeit, Abwanderung (im Zusammenhang mit fortschreitender Alterung und hoher Arbeitslosigkeit),negative Geburtenbilanz und Deindustrialisierung,ist bemerkenswert erfolgreich zu berichten. Dazu gehört die Rettung verfallener Städte, der Aufbau neuer Infrastruktur mit Straßen, hochmodernen Kommunikationsnetzen, Flughäfen und Kanälen. Und trotz des Zusammenbruchs eines Großteils der ostdeutschen Wirtschaft ist in den letzten fünfzehn Jahren auch ein ertragsstarker (zugegebenermaßen sehr begrenzter) Unternehmenssektor entstanden, der sich zunehmend auf ausländische Märkte konzentriert.Zudem hat sich die Wohnungssituation grundlegend verbessert, die Mangelwirtschaft ist beendet und das Gesundheitssystem leidet nicht mehr unter der Erschöpfung, die es in den letzten Tagen in der DDR erlebt hat, wo sogar die Nadeln der Spritzen mehrfach eingesetzt werden mussten zwischen den Anwendungen schärfen.

Der Diskurs über die Wiedervereinigung

Trotz aller Erfolge entwickelte sich der Diskurs über den Einigungsprozess widersprüchlich und oft nicht positiv. Dabei ist zu bedenken, dass der Umgang mit Diktaturen nach deren Ende zwangsläufig höchst umstritten sein wird.Die Gegner und Opfer der Diktatur fordern Gerechtigkeit und Aufklärung, die Mehrheit der Anhänger schweigt ohne Schuldgefühle, und die Fahnenträger der Diktatur geben keine Schuld zu, versuchen ihre berufliche Existenz zu sichern und kämpfen erneut um Führungspositionen . Und so ist für die Demokratie, die dem totalitären Regime folgte, die größte Aufmerksamkeit für ihre Vorläufer notwendig.

In der Bundesrepublik geschah dies nach der Befreiung vom Nationalsozialismus nur noch eingeschränkt. Die Demokraten lernten 1989/90 daraus und suchten konsequent und schnell die Konfrontation mit der SED-Regierung. Die damit verbundene Delegitimierung der kommunistischen Diktatur war notwendig. Dennoch waren damit Mängel verbunden. Typischerweise zeigt sich dies am Beispiel der Aufklärung der Aktivitäten inoffizieller Geheimpolizisten, die sich in die idealen „Gesamtossi“ verwandelten,während die Staatssicherheitsführung und die SED-Strukturen weitgehend im Dunkeln blieben. Es war auch notwendig, Hunderttausende Ostdeutsche auf ihre Beteiligung an der Geheimpolizei zu kontrollieren, aber es war auch unfair, weil Westdeutsche nicht oder nur sehr selten getestet wurden und die Frage, wie sie sich unter totalitärem Zwang verhalten hätten. musste unbeantwortet bleiben.

Dass die gegen "die Ostdeutschen" erhobenen Vorwürfe schließlich auf ihre westdeutschen Landsleute zurückgeworfen wurden, war nicht verwunderlich. Die erste Kritik kam aus der DDR selbst, wo Landsleute als deformiert und von Repressionen geprägt bezeichnet wurden.Darauf folgte eine Trotzreaktion, verbunden mit der Erkenntnis, dass sich die Ostdeutschen aus ihren Schwierigkeiten befreien mussten. So wurde einerseits versucht, Zukunftsperspektiven für die neuen Bundesländer zu entwickeln; Stattdessen wuchsen Enttäuschung, Missbilligung und Nostalgie. Während einige, wie Markus Meckel, versuchten, einen selbstbewussten Umgang mit der deutschen Einheit zu evozierenoder, wie Wolfgang Thierse, Perspektiven für Ostdeutschland entwickeln,andere, wie Friedrich Schorlemmer, setzten auf Versöhnungoder wie Edelbert Richter aus ostdeutscher Perspektive gegen den neoliberalen Zeitgeist argumentiert.All das war nachvollziehbar und wies diskursiv in die Zukunft. Neuere Veröffentlichungen zum Thema "einheitliche Frustration", "Unterschied in Einheit", das "Unbehagen in der Einheit"oder die "Unterschiede in der Einheit"Wenn Sie zu einem allgemeinen Gefühl kommen, verfehlen Sie den Punkt. Das gilt auch für die 2004 ausgebrochenen Proteste gegen die „Hartz IV“-Reform oder die Warnung vor der „supergaudeutschen Einheit“.

Viele der Probleme sind keine direkten Folgen der Wiedervereinigung, sondern erst in den letzten Jahren entstanden. Heute scheint sich in Ostdeutschland statt Freude über die gewonnene individuelle und öffentliche politische Freiheit Enttäuschung auszubreiten. Dies geschah nicht aus Undankbarkeit oder Frustration über gescheiterte Illusionen oder eine irrationale Rückkehr in die DDR, sondern hat handfestere Gründe. Dazu gehören neben der massiven sozialen und rechtlichen Degradierung der alten SED-Eliten das in der Eigentumsfrage geltende Prinzip „Rendite vor Entschädigung“, Massenarbeitslosigkeit, niedrigere Löhne bei gleicher und längerer Arbeitszeit sowie Ungleichheit in der Beschäftigung. sparen. Immobilien und gewerbliches Eigentum. Dazu kommt die Auswanderung, und hier hilft Richard Schröders Argument, dass zwischen 2001 und 2003 etwa 862.000 Ostdeutsche in den Westen und 715.000 Westdeutsche in den Osten gegangen sind.

nicht mehr, denn sie beantwortet nicht die Frage, wie sich diese „Migranten“ beruflich konstituieren und welche Positionen sie einnehmen. Es ist ganz typisch, dass Westdeutsche Führungspositionen im Osten übernehmen und im Gegenzug junge Menschen, vor allem qualifizierte und gut ausgebildete Arbeitskräfte, in den Westen abwandern.

Wenn die mit diesen Schwierigkeiten kämpfenden Ostdeutschen, wie Wolfgang Engler meint, zur "Vorhut" neuer Entwicklungen in ganz Deutschland werden,

scheint mehr als fraglich.

Noch wichtiger als das Migrationsproblem (und zugleich eng damit verbunden) ist die Unterrepräsentation von Ostdeutschen in wichtigen gesellschaftlichen und öffentlichen Positionen. Der Elitenwechsel seit 1990 ist nach wie vor eines der zentralen Probleme des Einigungsprozesses. Obwohl dieser Führungswechsel notwendig war, um den Demokratisierungsprozess in den neuen Bundesländern zu stabilisieren, und angesichts der personellen Schwäche der Bürgerbewegung nicht von Mitgliedern der Opposition sichergestellt werden konnte, ist die derzeitige Situation einer nahezu vollständigen Vorherrschaft der Deutschen in verschiedene gesellschaftliche Bereiche schaffen nachhaltige Ressentiments, die die Kolonisationsthese immer wieder schürt und auch politisch instrumentalisiert werden kann.

Das wird so bleiben, solange die Verhältnisse anhalten, die sich in einer Elitestudie der Universität Potsdam aus dem Jahr 1995 niederschlugen. Ihrer Meinung nach gab es keine Ostdeutschen in den 426 Spitzenpositionen in Wirtschaft, Justiz oder Bundesverfassungsgericht Militär. ; bei 474 Führungspositionen waren es zwölf, in den Medien, den wissenschaftlichen Gremien, in den Gewerkschaften und in der Kultur war jeder Zehnte ein Ostdeutscher.

Das lässt sich weder schnell noch grundlegend ändern: Eine Änderung ist erst zu erwarten, wenn eine neue, gesamtdeutsche Generation solche Unterscheidungen obsolet macht.

Grundsätzlich muss immer wieder betont werden, dass die Forderung nach Überwindung des Ungleichgewichts keine neue Ost-West-Spaltung fördert, sondern den Kampf um gleichberechtigte Teilhabe an deutschen Angelegenheiten fördert. Das Ziel sind nicht dieselben, sondern gleichwertige Lebensbedingungen. Aber Gleichheit für die Freien kann es nur auf der Grundlage sicherer Beschäftigungsmöglichkeiten geben.

Tradition der Freiheit und friedlichen Revolution

Heute wird die Situation in Ostdeutschland dadurch erschwert, dass sich die Wirtschaft nicht selbsttragend erholt hat und die ostdeutschen Bundesländer sich weiterhin auf das finanzielle Rinnsal des Westens „am Abgrund“ verlassen, um es einzuschätzen.Die Kritik ist berechtigt und hat nichts mit "Ostalgie" zu tun. Es ist zu überlegen, wie die Einheit von Freiheit und materieller Sicherheit erreicht werden kann, denn Freiheit kann nur dann voll genossen werden, wenn sie auf einer sicheren Lebensgrundlage gegeben ist.

Wichtig ist, das nicht nur im Osten ausgeprägte Gerechtigkeits- und Gleichheitsgefühl zu berücksichtigen, wo in den neuen Bundesländern die gerechteste Einkommensverteilung wahrgenommen wird, die deutlich positiver ausfällt als im Westen. Es kann nicht darum gehen, Unterschiede auszugleichen oder sich ausschließlich auf das freie Spiel der Kräfte zu verlassen. Dass Ostdeutsche Eigenverantwortung wirklich als Belastung sehen und soziale Freiheiten nur als Freiheit von Not und Risiko verstehen,es erscheint auch anhand des statistischen Materials fragwürdig. Ob das Vertrauen in die Wirtschaftsordnung und das politische System der Bundesrepublik weiter sinken wird, hängt maßgeblich von der Reformpolitik der kommenden Jahre ab.

Wenn es darum geht, das Ziel gleicher Lebensbedingungen in Ost und West auch in Zukunft nicht aus den Augen zu verlieren, kann das nicht bedeuten, dass alle Deutschen gleich gut oder schlecht leben, sondern dass Unterschiede in den Lebensbedingungen überwunden werden. Allerdings ist noch ein weiter Weg zu gehen, der eine bundesweite Modernisierung erfordert. Auch der Westen muss seine Reformhemmung überwinden und kann durchaus von den Reformerfahrungen des Ostens profitieren. Nicht die Erholungsentwicklung ist entscheidend, sondern der Erwerb der Zukunft. Thierse weist immer wieder darauf hin, dass es nicht vorrangig darum gehen sollte, Spenden zu kürzen, einen Niedriglohnbereich aufrechtzuerhalten und das Engagement des Staates und öffentlicher Institutionen zu reduzieren.Der richtige Weg kann in einer aktiven, nach innen gerichteten, rein deutschen Wirtschaftspolitik liegen, die zu mehr Investitionen insbesondere in Wissenschaft und Forschung führt. Dies ist ein langfristiger Prozess. Die Erinnerung an die friedliche Revolution und die Freude an der Wiedervereinigung könnten hier Zuversicht und Hoffnung vermitteln und deutlich machen, dass es östlich der Elbe kein Jammertal oder Milliardenbegräbnis gibt. Stattdessen brachte der Osten durchaus Reformpotenzial in die Bundesrepublik, von der veränderten Einstellung zur Frauenarbeit bis hin zur Flexibilisierung der Arbeitszeit.

Um das Erbe von 1989/90 fruchtbar zu machen, ist es auch notwendig, den Revolutionsbegriff gegen den irrelevanten und sogar diffamierenden Begriff „Wende“ (abgeleitet von Egon Krenz) aufzuarbeiten. Darüber hinaus sind der christliche Aspekt der Bürgerbewegung und die Orientierung ihrer Konzepte am europäischen Einigungsprozess wichtig für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und des Westens. Bemerkenswert ist auch der friedliche Charakter der demokratischen Revolution von 1989, die ausgeprägte Bedeutung von Volksbewegungen und die Bestätigung des westlichen politischen Denkens und der europäischen Aufklärungstradition.

Die grundlegende Bedeutung des Widerstands und der Opposition gegen Diktaturen für das politische Bewusstsein der Deutschen liegt in der Entwicklung eines Gefühls der permanenten Bedrohung des Rechtsstaats und in der Erkenntnis, dass alle Menschen bei Regelverstößen zum Widerstand aufgerufen sind Rechte. Auf internationaler Ebene könnte die Tradition friedlicher Revolutionen wie „republikanische Revolutionen“ (Richard von Weizsäcker) Teil der historischen Basis für die Erweiterung der Europäischen Union sein und eine Brücke zwischen Mittel- und Osteuropa und Westeuropa bilden.Demokratie und Niederlage dürfen nie wieder gleichgesetzt werden,und die Ideen der Bürgerbewegung, die Kraft der Zivilcourage und das Engagement „von unten“ auch bei der Lösung zukünftiger Konflikte berücksichtigt werden müssen. International sind die demokratischen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa mit der Hoffnung verbunden, dass die bisher als unauflöslich geglaubte Verbindung von Gewalt und Gegengewalt, von Mord und Massenmord durchbrochen wird.Bürgerrechtler in der DDR und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern haben das Repertoire revolutionärer Aktionen im letzten Jahrhundert erheblich erweitert.

In Zukunft wird es für die Ostdeutschen notwendig sein, ihren eigenen Wohlstand in Freiheit durch eigene Arbeit erreichen zu können. Voraussetzung dafür ist eine zukunfts- und wettbewerbsfähige Wirtschaft, die Ostdeutschland zu einer vernetzten europäischen Region mit eigenständigem Profil werden lässt.Die gesamte deutsche Öffentlichkeit muss wissen, dass die Menschen in der DDR vor 15 Jahren für ihre eigene Freiheit gekämpft und sie nicht als Geschenk „großer Männer“ oder als gnädiges Schicksal erhalten haben. Diese friedliche Revolution steht in der Tradition der deutschen Demokratie, die nicht auf viele erfolgreiche Beispiele des Widerstands und der Opposition gegen Diktatur und Fremdherrschaft zählen kann. Umso schöner, als man sich hier seit 1989/90 an mehr Positives erinnern kann.

Auszug aus: Politik und Geschichte der Gegenwart 40/2005

Fußnoten

  1. Siehe Harald Welzer, Ärgerliche Geschichten. Der Umgang mit der Vergangenheit in Deutschland gilt als vorbildlich. Was wird gemeistert? Absolut nichts, in: Frankfurter Rundschau, Beilage, 7.5. 2005, Seite 1.

  2. Fritz Stern, Five Germanys ist zu viel. Interview, in: Der Tagesspiegel vom 19.6. 2005

  3. H. Welzer (Anm. 1).

  4. Siehe Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 - 1945, München 2003; Junge Hubertus, Tag der Befreiung? Das Kriegsende in der DDR, Berlin 2005.

  5. Siehe ua Eckhard Jesse, Das Dritte Reich und die DDR – Zwei „deutsche“ Einheiten. Die "Supermächte", in: Fragen der Zeit. Der Weg zur Wiedervereinigung, Köln-Bonn 2000, S. 11 - 26.

  6. Siehe Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom "Dritten Reich" bis zur Wiedervereinigung, Bd. 2, München 2000, p. 513.

  7. So Winkler, vgl. ebd., p. 517.

  8. Siehe Jens Reich, Rückkehr nach Europa. Zur neuen Situation der deutschen Nation, München-Wien 1991, S. 79, 131. 9 Vgl. ebd., S. 193 ff.

  9. Vgl. ebd., S. 193 f.

  10. Vgl. ebd., S. 261.

  11. Um den 19. November 1989 Dresdner Theaterplatz, Tonbandaufnahme.

  12. Siehe Hartmut Zwer, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993, S. 130-131.

  13. Siehe H. A. Winkler (Anm. 6), S. 638 und 655.

  14. Richard Schröder, Günter Grass sieht Gespenster. Für „Freiheit nach dem Maß der Börse“, in: Die Zeit vom 12.5. 2005, Seite 8.

  15. Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse am 9. Oktober. 2004 in der Leipziger Nikolaikirche, Tonbandaufnahme.

  16. Vgl. Wilhelm Hinrichs/Ricarda Nauenburg, Unterschiedliche Demokratiezufriedenheit in West- und Ostdeutschland, in: Deutschland Archiv (DA), 38 (2005) 3, p. 393.

  17. Vgl. ebd., S. 401.

  18. Siehe Hans-J. Misselwitz, nicht mehr nach Westen ausgerichtet. Das neue Selbstbewusstsein der Ostdeutschen, Bonn 1996, S. 81.

  19. Vgl. Thorsten Erdmann, Regionale Aspekte der Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung, in: DA, 38 (2005) 3, p. 402.

  20. Siehe Wolfgang Seibel, Managed Illusions. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt und ihre Nachfolger 1990 - 2000, Frankfurt/M. 2005

  21. Vgl. Udo Ludwig, Licht und Schatten nach 15 Jahren wirtschaftlicher Transformation in Ostdeutschland, in: DA, 38 (2005) 3, S. 415.

  22. Vgl. Rainer Eckert, Triumph der Diktatur oder Verschleierung der Vergangenheit? Zwölf Jahre Auseinandersetzung mit der zweiten deutschen Diktatur. Eine vorläufige Bilanz, in: Horch und Guck, 11 (2002) 39, S. 23 - 27.

  23. Siehe H. A. Winkler (Anm. 6), p. 634.

  24. Siehe Hans-Joachim Maaz, Der Emotionsstau. Ein DDR-Psychogramm, Berlin 1990.

  25. Siehe Markus Meckel, selbstbewusst in der deutschen Einheit. Rückblicke und Reflexionen, Berlin 2001.

  26. Siehe Wolfgang Thierse, Zukunft Ost. Perspektiven der DDR im Herzen Europas, Berlin 2001.

  27. Vgl. Friedrich Schorlemmer, Versöhnung heißt nicht: „Nicht vergessen“, in: Marion Dönhoff ua (Hrsg.), Denn das Land braucht Versöhnung. Ein Manifest II, Berlin 1993, S. 50-64.

  28. Siehe Edelbert Richter, Aus ostdeutscher Perspektive. Gegen den Geist der neoliberalen Zeit, Köln-Weimar-Wien 1998.

  29. Mathias Wedel, Einheitsfrust, Berlin 1994.

  30. Lothar Probst (Hrsg.), Unterschied in der Einheit. Zu den kulturellen Unterschieden der Deutschen in Ost und West, Berlin 1999.

  31. Daniela Dahn, Nach Westen und nicht vergessen. Über das Unwohlsein in der Einheit, Berlin 1996.

  32. Jana Simon/Frank Rothe/Wiete Andrasch (Hrsg.), Das Buch der Unterschiede. Warum es keine Einheit gibt, Berlin 2000.

  33. Uwe Müller, Deutsche Einheit Supergau, Berlin 2005.

  34. Ver R. Schröder (nota 14).

  35. „Wolfgang Engler, Bürger, Arbeitslos“ ansehen. Für eine radikale Transformation der Gesellschaft, Berlin 2005, S. 332.

  36. Siehe auch Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin 2002.

  37. Weithin zitiert bei W. Thierse (Anm. 26), p. 51.

  38. Vgl. H.-J. Misselwitz (Anm. 18), p. 90.

  39. W. Thierse (Anm. 26), S. 8.

  40. Vgl. Renate Köcher, Freiheit und Gleichheit – Wertewandel im Vergleich, de: Hermann Schäfer (Hrsg.), Ploetz: 50 Jahre Deutschland. Eventos y desarrollos, Freiburg 1999, S. 77 - 82.

  41. Zur theoretischen Begründung des von der Bundesrepublik eingeschlagenen Weges als „Hochlohngebiet“ vgl. W. Engler (Anm. 35).

  42. Ver Stephan-Andreas Casdorff, Vergiss die Ostdeutschen nicht, de: Der Tagesspiegel de 28.6. 2005

  43. Verliehen am: H. A. Winkler (Note 6)

  44. "Nationalismus ist die Plage." Joschka Fischer und Heinrich August Winkler über die Last der NS-Vergangenheit, gemeinsame Werte in der Europäischen Union und Unzufriedenheit mit der Osterweiterung, in: Der Spiegel, (2005) 18, S. 36.

  45. Siehe Rainer Eckert, Revolution, Kollaps oder „Umkippen“. Das Ende der zweiten Diktatur auf deutschem Boden im Meinungsstreit, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR zwischen Mauerbau und Mauerfall, Münster et al. 2003, p. 444.

  46. Vgl. W. Thierse (Anm. 26), p. 13

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Kelle Weber

Last Updated: 03/19/2023

Views: 6367

Rating: 4.2 / 5 (73 voted)

Reviews: 88% of readers found this page helpful

Author information

Name: Kelle Weber

Birthday: 2000-08-05

Address: 6796 Juan Square, Markfort, MN 58988

Phone: +8215934114615

Job: Hospitality Director

Hobby: tabletop games, Foreign language learning, Leather crafting, Horseback riding, Swimming, Knapping, Handball

Introduction: My name is Kelle Weber, I am a magnificent, enchanting, fair, joyous, light, determined, joyous person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.